Samstag, 1. Oktober 2011

Bucheckern

 

Wir hatten Heyersum hinter uns, überquerten die Landstraße und schoben die Räder bergan. Meine Mutter hielt inne und ich hörte sie andächtig den bekannten Liedervers summen:

"Wer hat dich du schöner Wald, aufgebaut, so hoch da droben?

Wohl dem Meister will ich loben,so lang' noch meine Stimm' erschallt,

O wie wohl, du schöner Wald."

Jetzt wusste ich , sie hat mir verziehen, zwischen uns ist wieder alles gut.

Als ich vor etwas mehr als einer Stunde von der Schule nach hause kam, stand sie startbereit mit ihrem Fahrrad auf dem Hof.

"Komm mit, wir wollen Bucheckern sammeln."

Ich maulte.

"Na los! Es ist herrliches Wetter. Wir fahren zum Heyersumer Wald."

Nee, maulte ich weiter.

"Na, dann eben nich'. " Schon saß sie auf dem Rad und fuhr los.

Ich ging ins Haus, die Treppe hoch, streifte den Tornister ab und schob ihn mit dem Fuß in die Ecke. Am Kleiderbord hing unser Einkaufsnetz, darin ein dicker Apfel und die Brotschachtel aus Aluminium, die ich bei Schulwanderungen schon so oft dabei gehabt hatte.

Über den letzten Wanderausflug muss ich heute einen Aufsatz schreiben, maulte ich in Gedanken, zerrte den Tornister auf den Tisch in meinem Zimmer. Setzte mich und sah aus dem Fenster.

Auf der Bahnstrecke von Barnten nach Emmerke qualmte ein Personenzug entlang. Die Schranken am Feldweg nach Heyersum waren bereits geschlossen. Es würde noch einige Zeit dauern, dann müsste meine Mutter auch dort ankommen. Noch bewegte sich nichts auf dem Weg. Selbst wenn ich jetzt ganz schnell hinter meiner Mutter herfahren würde, könnte ich sie weder bis zu dieser Schranke, noch bis zur nächsten einholen. Es sei denn sie wären länger als üblich geschlossen.

Das Rennen begann. Hoffentlich muss ich jetzt nicht mein Fahrrad aufpumpen. Die Zeit drängt. Ich fuhr bereits, als ich das Einkaufsnetz an den Lenker hängte und darauf bedacht war, dass es nicht in die Speichen des Vorderrads geriet.

Bis zum Dorfausgang stieg die Straße ein wenig bergan. Zwei drei Ecken weiter lag der schnurgerade Feldweg vor mir und ich sah in der Ferne jemanden auf dem Fahrrad. Bis zum Bahnwärterhäuschen könnte ich die Strecke nicht aufholen. Aber es gab ja gleich dahinter einen zweiten Bahnübergang. Dort an der Nordstemmer Strecke fuhren viel häufiger Züge. Wenn ich Glück habe, wird meine Mutter dort warten müssen. Es kam anders.

Aber noch vor den ersten Häuser von Heyersum war ich auf Rufweite heran gestrampelt. Schreit ein fast Zwölfjähriger Bengel in der Feldmark laut nach seiner Mama? Nein; ich klingelte wie wild und trat kräftiger in die Pedalen, wich geschickt Unebenheiten und Steinen aus, rief "Warte auf mich" und klingelte wieder.

Jetzt schien es als wollte sie sich umdrehen. Tatsächlich sie hielt an, winkte kurz und fuhr einfach weiter. Ich war noch zu weit entfernt. Sie konnte mich noch nicht erkennen und ahnte ja auch nichts von meiner Verfolgungsjagd. Dann war ich bei ihr.

"Na, hast Du es dir überlegt?"

"Ja."

Langsam fuhren wir die Dorfstraße entlang, am Feuerlöschteich vorbei. Rechter Hand vor uns stand das große Gasthaus "Salzburg" an der Landstraße, die wir gemeinsam überquerten. Vor uns lag der Heyersumer Berg. Am Waldweg legten wir unsere Räder ab. Die Buchen brauchten wir nicht zu suchen. Ihre dicken lichtgrauen Stämme umgaben uns.

Das Auflesen der Bucherkern war ein mühsames Geschäft. Ich hatte es geahnt. Zunächst sah ich auch gar keine, überall nur die welken Blättern vom Vorjahr. Doch nach ein wenig hier und dort geschaut, verrieten die stacheligen Hüllen, wo sich das Einsammeln der kleinen dreikantigen Nüsse lohnt. Wir knieten uns hin, schoben mit den Händen das trockene Laub beiseite, denn die meisten und schönsten glänzende Eckern lagen unter den Laub.

Selten allerdings so dicht, dass ich gleich mehrere in die flache Hand schubsen konnte, um dann durch geschicktes Pusten unnütze Krümel zu entfernen. Meistens wollten die braunen Eckern aber einzeln vom Boden aufgelesen werden.

"Du musst sie zwischen den Fingern zusammen drücken, dann kannst du die tauben Schalen wegtun."

Als mir die scharfen Kanten der Bucheckern wehtaten, versuchte ich meine Puste-Methode. Dabei verlor ich allerdings zu viele gute Nüsse.

"Du kannst sie auch essen, ohne Schale natürlich."

Die harte glatte Schale ließ sich mit den bloßen Fingern kaum abspulen. Der Kern schmeckte zwar; war aber "was für den hohlen Zahn", wie man so sagte.

Meine Mutter sammelte die Früchte in einer leere Konservendose, war sie gut halb voll schüttelte sie die Dose und oben bildete sich eine Schicht aus den leichten tauben Eckern, die sich dann leicht entfernen konnte.

Besonders die vorjährigen leeren Hüllen pikten beim knien. Nur die erst kürzlich vom Baum gefallenen hinterließen an den nackten Beinen keine Schrammen, ihre Stacheln waren noch weich. In einigen stecken noch die Nüsse, paarweise jeweils in vier Fächern.

Als wir mit unserer Ernte heimfuhren, hörte ich, dass meine Mutter die Absicht habe bis zum in diesem Herbst noch öfter Bucheckern sammelt wollte. So geschah es auch. Sie drängte mich nicht, sie zu begleiten.

In einem der Nachbardörfer von Rössing gab es ein Ölmühle, und bei uns die köstlichsten Kartoffelpuffer im ganzen Ort.

Bucheckern von Räder zerfahren, Am Steinberg Heute im Spätsommer 2011 hängen die Rotbuchen voller Früchte, ein richtiges Bucheckern Jahr. Sie fallen herunter, liegen wie hingeschüttet auf Wegen. Kaum jemand beachtet sie. Sie werden nutzlos von den Fahrzeugen zermahlen, von Gummireifen die darüber hinwegrollen.