Dienstag, 20. September 2016

Ruthe und die Gendarmen

Spät abends, im Juni 1809 reitet ein Gendarm auf der Land­straße von Emmerke nach Hildesheim. Erst seit rund fünf Monaten gehört das Gebiet zum Königreich Westphalen, regiert von Jerôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. 
Der Reitende führt einen gefangenen Deserteur mit sich. Mit einem kurzen Strick an den Händen gefesselt, ein längeres Seil um den Hals geschlungen und am Sattelzeug verknotet, hat der Gefesselte alle Mühe mit dem Pferd schritt zu halten. Dass seine durch die Stricke geschundenen Hautstellen bluten kümmert den Gendarm nicht. Am Seil ziehend und schimpfend treibt er zur Eile an.
Oberhalb von Himmelsthür biegt der Strickreiter von der Landstraße nach rechts ab. Es geht eine kleine Böschung hinauf. Er weiß, dort hinter dem Hölzchen führt ein Pfad geradewegs zum Schäfertor der Vorstadt Moritzberg. Schnell will er das Tor erreichen. Von dort ist es noch eine knappe Stunde bis Hildesheim. Vor Sonnenuntergang will er seinen Gefangenen im Gefängnis abliefern.
Seit Hildesheim nicht mehr das von Preußen besetztes Gebiet des Hannoverschen Königreichs ist, sondern von Bonaparte regiert wird, verbergen sich in Wäldern und an geheimen Orten viele junge Männer. Es sind Deserteure, zwangsweise rekrutierte oder bereits einem französischen Regiment zugewiesene und dann fortgelaufene. In großer Zahl, oft sogar gruppenweise verweigerten diese Männer der ungeliebten Fremdherrschaft Folge zu leisten. Gendarmen sorgten für die Rückführung. Für die Häscher gibt es eine Geldprämie. Die gefangenen Deserteure müssen mit schwerer Haft-, häufig gar mit der Todesstrafe rechnen.
In Hildesheim wird die Gendarmerie von einem Brigadier geführt. Ihm unterstehen sechs berittene Männer, erkennbar an uniformen Kennzeichen. Mit Säbel oder Gewehr bewaffnet, mit Stricken und Stöcken ausgestattet, durchstreiften sie die ihnen zugewiesenen Landstriche des Regierungsdistrikts. Die Gendarmen, wurden oft Distriktreiter oder gemeinhin geringschätzig und abwertend Strickreiter genannt.
Auf dem Weg von Emmerke nach Hildesheim, nahe Himmelsthür, ausgerechnet an der Abzweigung, nach Himmelsthür strauchelt der Gefangene. Der Gendarm schimpft lauthals und zerrt am Strick. Er kümmert sich nicht um die schmerzenden Handgelenke und Wunden des Deserteurs.
Dessen blutenden Hautstellen schmerzen. Das geronnene Blut im Nacken verklebt mit den Fasern des Strickes und bei jeder Bewegung reißt die durchgescheuerte Haut weiter auf. Der Abgeführte schreit. verflucht seinen Peiniger und beschimpft ihn als unmenschlichen Barbaren. Zorn auf der einen Seite, Schmerz und Wut auf der andere, machen die beiden zu Feinden. Blind gegenüber sonstigen Gegebenheiten. Sie laufen in eine Falle.
Alles spielt sich sehr schnell ab. Besonders überrascht es den Strickreiter. Aus dem Gebüsch stürmen vier Männer und fallen über ihn her. Sie reißen ihn vom Pferd. Noch eher er zum Säbel greifen kann, liegt er auf dem Boden. Einer der Männer, allesamt Deserteure, zerschneidet die Fesseln des Gefangenen, raunt ihm zu: „Hau ab Johannes“
Unter groben Flüchen, mit derben Schimpfwörtern und Drohungen wird der verhasste französische Gendarm zu einer Eiche gezerrt. Seine Widersacher reißen ihm den Rock von den Schultern, Stiefel und Hosen von den strampelnden Beinen. Die Männer feixen dabei und verspotten den Überrumpelten. Johannes knotet eine Schlaufe in seinen Strick. Grinsend wirft ihn über einen Ast. Der Gendarm ist starr vor Schreck. Schaudernd blitzt das Bild eines kürzlich erstochen und erschossen im Haseder Holz aufgefundenen Gendarms vor ihm auf. Zitternd fleht er um Verschonung.  
Plötzlich schlägt die feindliche Stimmung um. Heiterkeit, über ein gelungenes Räuber-und-Gendarm-Spiel beherrscht die Szene. Vor Todesangst zitternd entleert sich bei dem einen die Blase. Die anderen grölen. Sie, die sonst stets Unterlegenen, oft verfolgten Deserteure, sehen sich endlich einmal auf der Gewinnerseite. Genugtuung darüber macht sie übermütig. Sie binden den nackten Strickreiter an den Eichenstamm, ziehen die Stricke gewaltig stramm. Die raue Eichenborke presst sich in den Rücken des Gedemütigten. Er sieht, wie sie mit seinen Kleidungstücken herumhüpfend eine Spur bis zur Landstraße markieren. Dort stoßen sie sein Gewehr und den Säbel in die Erde, binden das Pferd daran. Lustig meckern sie wie eine Ziege.
Bei Tageslicht wird man das Tier vom Krehla, der nördlichsten Erhebung der Ortschaft Moritzberg aus sehen können, vielleicht sogar auch vom Schäfertorturm, sagen sie sich.
Während Johannes aus Freude über die unverhoffte Befreiung hüpfend, in Richtung Himmelsthür verschwindet, wenden sich die anderen dem Moritzberg zu, nicht ohne ihrem Opfer mehrfach spöttisch gute Nacht zu zurufen.
Am anderen Morgen sprach sich das Ereignis schnell herum. "Wohl hundert Menschen sollen unter Gelächter, Jubel und Frohlocken von dem nahen Moritzberg nach dem Orte gelaufen seyn, um den Gendarm in dieser Stellung zu begrüßen" schreibt Johann Friedrich Ruthe in seiner Lebenserinnerung. Das Buch , mehr als 400 Seiten stark, erschien 1841 in Berlin im Selbstverlag unter dem Titel Leben, Leiden und Widerwärtigkeiten eines Niedersachsen.  
Diese autobiografische Darstellung umfasst den Zeitraum von Ruthes Geburt in Egenstedt, 1788 bis zum Jahre 1813, dem Ende der Westphälischen Regierung.
Ruthe liefert lebendige Bilder aus seiner Kindheit. In Egenstedt. Auf dem nahegelegenen Gutshof Marienburg erlebt er einige weitgehend unbeschwerte Jahre. Dann ziehen seine Eltern nach Himmelsthür. Der Vater ist als Schweinemeister auf dem nahegelegenen Amtshof Steuerwald tätig.
Ruthes Aussagen über den Schulunterricht in seinem Geburtsort und seine späteren Lehrer in Steuerwald sowie in Hildesheim, sind als Quelle der Schul- und Ortsgeschichte gleichermaßen wertvoll. Seine Nachrichten über durchzogen Gegenden und Aufenthaltsorte könnten für Heimatkundler wichtig sein.
Manche Passagen zeugen von seiner früh einsetzenden Entfremdung gegenüber dem katholischen Glaubensleben. Wenn Ruthes "Buch auch manchmal das Spiel der Phantasie verrät und von irrigen, oft selbst abstoßenden und das religiöse Empfinden verletzende Behauptungen nicht frei ist, so enthält es andererseits" auch lobende Abschnitte über seine Lehrer und Erzieher, erklären Bernhard Gerlach und Hermann Seeland in ihrer Geschichte des Bischöflichen Gymnasium Josephinum in Hildesheim.
Ruthe betont in der Vorrede seines Buches: "meine Beschreibung soll bis in die geringsten Kleinigkeiten nur Wahres enthalten". zugleich erklärt er, weil einige Angaben "sehr delikater Art" seien und um nicht "zu sehr gegen Schicklichkeit und Billigkeit zu verstoßen" könne er "die Namen verstorbener Personen [...] nur selten, der Lebenden aus guten Gründen niemals angegeben."
Auf zusammengereimte Fantasie und Rücksichtslosigkeit deutet das nicht hin, eher auf Rücksichtnahme. Nicht nur bei katholischen Lesern sieht sich der Autor vielleicht in eine Zwickmühle zugeraten. Er schwankt zwischen Wahrheitsliebe und Höflichkeit gegenüber seinen Zeitgenossen. Er will nichts Unwahres schreiben, also verschweigt er bestimmte Details, insbesondere Namen, ebenso manche Einzelheiten, mit denen Leser eindeutige Rückschlüsse auf bestimmte Personen treffen könnten.
Zu diesem Personenkreis zählen auch ihm nahestehende Familienangehörige, in erster Linie sicherlich sein um fünf Jahre älterer Bruder Johannes Lorenz.
Der Autor Johannes Friedrich Ruthe ist überzeugt, dass "Lebensbeschreibungen, wenn sie wirklich nur Wahres enthalten, […] von nicht geringem Werthe [sind, weil] sie einen tiefen Blick ins menschliche Herz gestatten". Wenn unter solchen, in seiner Vorrede genannten Bedingungen, die Namen der nächsten Angehörigen ungenannt bleiben, darf man daraus schließen, dass sie 1841 entweder bereits verstorben waren oder dass es über sie Indelikates, Unschickliches zu sagen gab, etwas von dem der Autor glaubte, dass sie es ihm "sehr übel nehmen dürften".
Sein Vater starb 58-jährig 1808. Damals war seine Mutter 46 Jahre alt. Sie starb 1823. Die Eltern durch Preisgabe belastender Angaben schonen zu wollen entfiel also. Gegenüber seinen acht Geschwister stellt sich das anders dar. Einige lebten beim Erscheinen des Buchs sicherlich noch. Seine jüngste Schwester erwähnt er im Zusammenhang mit einer liebenswerten Begrüßung. Er nennt sie "die kleine Therese". Sie "zählte erst fünf Jahre", als sie ihm versprach niemanden zu verraten, dass er oft heimlich ins Elternhaus kam. Niemand durfte erfahren, dass er durch Unterstützung seiner Mutter einen Unterschlupf bei Familie Rust in Hildesheim gefunden hatte. Sie bewohnte ein Haus in der Klosterstraße. Von dort schleicht sich Ruthe manche Nacht auf die alte Stadtmauer und durch den Graben am Hohen Wall nach Himmelsthür.
Womöglich durch Geschwätzigkeit einer Spielgefährtin der kleinen Therese wird Ruthes Anwesenheit dem Maire des Ortes Himmelsthür gemeldet. Tags darauf zwingt ein Brigadier – vielleicht jener, später an der Trilke verprügelte? – durch repressives Vorgehen die Mutter zur Preisgabe des Aufenthaltsortes ihres Sohnes. Er wird gefasst. Zur Datierung dieser Ereignisse ist ein Blick in das Ortsfamilienbuch Himmelsthür u. Steuerwald hilfreich.
Darin sind ist Ehepaar Ruthe mit neun Kindern aufgeführt. Darunter ein am 27. Februar 1805 geborenes Mädchen namens Maria Magdalena Theresia. Als Therese fünf Jahre alt war schrieb man also 1910.
Zu dieser Zeit ist Ruthe folglich vom Brigadier der Strickreiter gefangengenommen worden. Ruthe soll seinem Regiment in Magdeburg wieder zugeführt werden. Zuletzt hatte er dort in einer Schreibstube seinem Militärdienst nachkommen müssen, sich jedoch alsbald davon gemacht.
Aber statt über die Elbe ins Preußische zu fliehen, wo er als Deserteur des Westphälischen Königs keine Strafverfolgung zu fürchten brauchte, schleicht er nachts durch Wald und Flur bis in seine Heimatstadt. Ohne dort oder bei seiner Verwandtschaft in Höxter dauerhaft bleiben zu können, beginnt eine erneute Wanderung auf heimlichen Wegen.
Schließlich erreicht er die Grenze zu Preußen. In Berlin findet er Unterkunft. Ein seit seiner Kindheit gehegter Wunsch einmal Tierarzt zu werden lenkt ihn zur Hochschule. Durch die Botaniker Rudolphi und Link, beides Hildesheimer, findet Ruthe schließlich Unterstützung. Obgleich völlig mittellos und halb verhungert hört ihre Vorlesungen. Sie verhelfen ihm zu einer bezahlten Tätigkeit im zoologischen Museum. Bald danach obliegt ihm die Betreuung der anatomische Sammlung der Plamannschen Anstalt. Zum Lebensunterhalt und Studium reicht es nicht. Mit all den Nebentätigkeiten überfordert, gerät das Studieren der Tiermedizin ins Hintertreffen. Allein auf sich gestellt, sieht er in Berlin bald keine Chance mehr. So verfällt Ruthe auf die Idee im heimatlichen Umfeld Hilfe zu suchen. Die aktuelle militärische Entwicklung des Ersten Koalitionskriegs und der sich anbahnende Niedergang des Königreichs Westphalen scheint ihm das zu ermöglichen.
Der Schönling Jérôme Bonaparte, als 'König Lustik' verspottet, schickte sich an seine Residenz in Kassel zu verlassen, als sein Militär immer weiter zurückgedrängt wurde. Das war für Ruthe ein willkommener Grund "nach Hildesheim zu eilen." Er folgt den westwärts ziehenden Tross des Braunschweiger Herzogs und sieht 1813 sein "liebes Hildesheim" wieder. Hier verfällt er auf die Idee den Fürstbischof von Hildesheim "um Unterstützung für zwei Jahre zu bitten", um sein Studium in Berlin fortsetzen zu können.
Bei Ruthe heißt es, „Meine Bittschrift war bald abgefasst und mit meinen Zeugnissen dem Fürsten zugesendet". Franz Egon von Fürstenberg Fürstbischof von Hildesheim und Paderborn gewährt ihm Audienz und speist den Bittenden mit einer Zahlungsanweisung über 3 Taler ab.
Ein paar Tage später dürfte dem Bittsteller klar geworden sein, dass er in Hildesheim schon seit Jahren einen schlechten Leumund besaß. Als er nämlich seinen Pass im Rathaus vorlegte, musste er sich folgende Fragen anhören, ob er denn der Ruthe sei, der bei Lutter am Barenberg einen Gendarm aufgehängt habe.
Zur Entlastung führt Ruthe Einzelheiten seiner Flucht an. Beim Lesen der autobiografischen Schrift mögen die Aussagen aus heutiger Sicht zutreffend erscheinen. Ungläubig zeigte sich der Visitator des Reisepasses. Der fragte unverblümt, ob Ruthe denn in dem kleinen Eichenwald bei Harsum einen Gendarm getötet habe? Des weiteren geht er auf einen Vorfall ein, der sich nahe Moritzberg auf der Landstraße von Neuhof nach Hildesheim ereignete und behauptet: "Sie haben den Brigadier mit Hülfe einiger anderer Deserteurs bei der Trölke (oder Trilke, einem Vorwerk nicht fern von Hildesheim) auf grausame Weise durchgepeitscht."
Ruthe erklärt vom letztgenannten Vorkommnis seien ihm zwar Einzelheiten bekannt. Von all dem habe er später einmal in Hildesheim erzählen gehört. Er selbst sei jedoch zur Tatzeit in einem Braunschweiger Gefängnis gewesen. Obwohl er die Vorwürfe damit nicht völlig entkräften konnte, erhält er die amtliche Reiseerlaubnis und verlässt tief enttäuscht Hildesheim – für immer.
Wie erwähnt wird man ihm heute nicht zutrauen an Mord- oder Gewalttaten schuldig zu sein. Irritierend dabei bleibt, dass Ruthes Darstellung der Attacke bei der Trilke gegen den "gefürchteten Brigadier, ein äußerst grausamer Mensch" – so beschreibt er ihn – wie ein Augenzeugenbericht anmutet. Wenn der Autor nicht selbst daran beteiligt war, ist doch wahrscheinlich, dass er aus erster Hand und zeitnah von dem Ereignissen bei der Trilke erfuhr. So heißt heute ein Bachlauf im Ortsteil Moritzberg.
Bei Betrachtungen dieser Schilderung rückt der Bruder, Johannes Lorenz in den Vordergrund. Der Biograf erwähnt ihn nicht in diesem Zusammenhang. Er eine Form, die offenbar brüderliche Verbundenheit aufrecht erhalten soll, zumindest Neutralität zeigt.
So schreibt er an anderer Stelle sein Bruder sei auch desertiert. Ob beide Brüder zu der flüchtenden Gruppe Gefangener gehörten, die bei Lutter am Barenberg von ihren Bewachern verfolgt wurden bleibt ungeklärt. Dabei kam es zu einer ernsthaften Auseinandersetzungen. Ein Gendarm fand dabei den Tod.
Warum zeigt Johann Friedrich Ruthe das so umständlich auf? Nur um der Wahrheit genüge zu tun? Beabsichtigte er seinen Bruder zu entlasten? Um sich selbst von den Vorwürfen im Rathaus zu distanzieren, hatte ein deutlicher Widerspruch genügt, warum nicht ebenso in seiner schriftlichen Darstellung?
Johannes Lorenz Ruthe wurde am 31. Aug. 1783 in Egenstedt geboren, ist aus bisher nicht bekannten Gründen, erst später im Kirchenbuch Steuerwald / Himmelthür eingetragen. War er das Schwarze Schaf in der Familie, das die Familienehre nicht preisgeben durfte?
Eine Verwechselung, vielmehr das Über-einen Kamm-scheren der Brüder Johann Friedrich Ruthe und Joh. Lorenz Ruthe bei den Einwohnern von Hildesheim mag den gegen Joh. Friedrich Ruthe erhobenen Vorwürfen zugrunde gelegen haben. Vorwürfe deren Nachklang ich als Malerlehrling auf dem Moritzberg selbst noch im 20. Jahrhundert spürte, damals jedoch noch ohne Anhaltspunkt für die Ursache. Erklärungsmöglichkeiten zeigten sich mir erst nach der Beschäftigung mit Johann Friedrich Ruthes Lebenserinnerungen.
Seine Ausführungen gehen nicht weit über das zweite Jahrzehnt des 19. Jh. hinaus. Nachfolgendes weisen andere Quellen auf. Der Botanischen Verein der Provinz Brandenburg ehrte sein Mitglied Johann Friedrich Ruthe in einem Nachruf. Für die Allgemeine Deutsche Biographie liefert Ascherson einem Beitrag. Zudem steht seit März 2015 mein ausführlicher Beitrag in Wikipedia.
Zu Joh. Friedrich Ruthe siehe auch meinen Beitrag in myHeimat